architektur
als raumbildende kunst
mit programmatischer verpflichtung
zu übergreifender gestaltung
im sinne der angewandten künste ist architektur die kunst, die raum bildet. die angewandte kunst architektur ist raumbildende kunst. um raum zu bilden, wirken in ihr die verschiedensten komponenten, phänomene und qualitäten zusammen. dies begründet und erklärt die ihrer gestalterischen reichweite fehlende grenze. als raumbildende kunst ist architektur in ihrer gestalterischen dimension übergreifend und umfassend. in raumbildender kunst steckt das fass, das drinnen und draussen rundum fasst.
„welche linie scheidet das drinnen vom draussen, das rattern der räder vom geheul der wölfe?“ fragt der italienische schriftsteller italo calvino. „eine solche linie gibt es nicht!“ ist darauf zu antworten. aber selbstverständlich hat calvino nach der linie auch gar nicht gefragt. es geht ihm um die form, ganz zu anfang noch um die form als simple beziehung, dann aber vielmehr um die form als komplexes beziehungsgeflecht.
raumbildende kunst handelt von verhältnissen und verhaltensformen. für den tschechisch-brasilianischen philosophen und medientheoretiker vilém flusser „ist die welt nicht, wie die sachen auseinander entstehen und wieder vergehen (geschichte), sondern wie sich die sachen zueinander verhalten (formen).“ entstehnisse und vergehnisse sind freilich selbst verhältnisse. die welt ist kein entweder oder sondern ein sowohl als auch. jedes erscheinungsbild von wirklichkeit ist folglich eine formfrage. da verhältnisse und verhaltensformen zwischen verschiedenem es bestimmen, zeigt sich in ihm ein interdisziplinäres und multimediales profil. seine form ist komplex. seine form ist sinnlich komplex. gerade in solcher dimension aber übertrifft die form von raum jede andere form von wirklichkeit, die sie zum teil ihrerselbst macht.
es geschieht dieser sinnlich komplexen form von raum wegen, dass raumbildende kunst in ihrem profil nicht anders als interdisziplinär und multimedial sein kann. nur so vermag sie jener zu entsprechen. und zugleich kommt sie ihrer übergreifenden gestalterischen verpflichtung nach: steht mit gesellschaft und umwelt in regem austausch, hält kontakt mit den ihr benachbarten „freieren“ künsten, tritt mit aktuellen philosophischen denkmodellen in dialog, reagiert auf gesellschaftspolitische veränderungen. denn nichts konnte vilém flusser mehr verärgern als gestalter, die ihre gesamtverantwortung nicht sehen.
ihre verpflichtung zu übergreifender künstlerischer dimensionierung beim raumbilden und raumbedeuten ergibt sich für die architektur gleichsam „von haus aus“. schon 1908 sagt der wiener architekt und theoretiker adolf loos so unnachahmlich polemisch wie treffsicher: „das kunstwerk ist eine privatangelegenheit des künstlers. das haus ist es nicht.“ kunstwerke verschwinden in die wohnzimmer der häuser und in die sammlungen der museen. häuser dagegen verschwinden nicht. weder von den straßen, noch von den plätzen. es sei denn, sie werden abgebrochen. doch dann entstehen an derselben stelle schnell neue, noch größere und länger haltbar als ihre vorgänger. und ebendeshalb gilt für die architektur eine künstlerische verpflichtung, die nach loos über diejenige des kunstwerks weit hinausgeht: „das kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das haus einem jeden.“
marc merr
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